
Es hat nicht erst im Oktober 2023 begonnen,
das Leid, die Misshandlungen, die Entmenschlichung
der Menschen in Gaza durch Israel,
ihre Trauer, ihr Ausgeliefertsein, ihre Rechtlosigkeit,
der ohnmächtige Zorn der Palästinenser.
Ich habe während des Gaza-Konflikts 2014 für das deutsche Fernsehen von beiden Seiten berichtet, aus Israel und Gaza. Meine hier gezeigten Photographien entstanden beim Einmarsch israelischer Truppen nach Gaza im Juli 2014 und während mehrerer Feuerpausen im August 2014 in Shejaiyah, einem vom israelischen Militär völlig zerstörten Teil von Gaza-Stadt, in Beit Hanoun im Norden des Gazastreifens und in Khuza’a, einem Außenbezirk von Khan Yunis, im Süden von Gaza, in dem heftige Gefechte zwischen Israelis und Palästinensern stattgefunden haben.
Der Gaza-Krieg von 2023 unterscheidet sich durch die Brutalität von Hamas gegenüber Zivilisten in Israel, als sie begleitet von einem palästinensischen Mob am 7. Oktober die Einzäunung Gazas überwand und aus Gaza ausbrach. Und durch den völlig unverhältnismäßigen Rachefeldzug Israels gegen die gesamte Bevölkerung Gazas mit dem erklärten Ziel, sie und ihre Lebensgrundlagen, die gesamte palästinensische Zivilisation in Gaza zu vernichten.
Ich hatte mir 2014 angesichts der blindwütigen Zerstörung in Gaza durch das israelische Militär nicht vorstellen können, dass es noch schlimmer kommen könnte. Damals schoss Israels Marine, neben den Bombardements der Luftwaffe und dem Artilleriebeschuss durch die Armee, auch noch mit den zum Teil stark streuenden Schiffsgeschützen ihrer deutschen Korvetten in die dichtbesiedelten engen Straßen der Wohngebiete Gazas. Von „gezielten Schlägen“ konnte keine Rede sein.
Zehn Jahre später sucht die israelische Führung ganz offensichtlich und erklärtermaßen die „Endlösung“ der Palästinafrage durch die totale Zerstörung Gazas, die „Eliminierung“ seiner Bevölkerung - egal ob Mann, Frau, Kind oder Säugling - und die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung des Westjordanlandes.
Es ist erschütternd mitanzusehen, wie die
Debatte über den Gaza-Krieg in Deutschland von den ideologischen Lagern geführt wird. Anfangs mit einem tiefen Unbehagen meinerseits beiden Seiten gegenüber. Einerseits den verbissenen Kritikern der Besatzungspolitik Israels, die nicht einzugestehen in der Lage waren, dass Terror, Mord und unakzeptable Gewalt gegen Zivilisten von Hamas am 7. Oktober ausgeübt wurde. Und andererseits den Vertretern der Israel verherrlichenden „Staatsraison“ gegenüber, die sich jeden Hinweis auf die Ursachen, den Kontext dieser Gewalt als „Relativierung“ verbaten. Mit einer Absolutheit, die sich selbst ad absurdum führt, wenn die gleichen Leute heute den israelischen Völkermord, das Aushungern und Foltern der palästinensischen Bevölkerung mit allerlei „Kontext“ zu „begründen“ versuchen.
Inzwischen hat das Ausmaß der israelischen Grausamkeiten gegen vollkommen unschuldige Menschen, gegen palästinensische Kinder und Säuglinge den Zusammenhang mit den Geschehnissen des 7. Oktober 2023 weit hinter sich gelassen. Israel berserkert, tötet wahllos massenhaft, vernichtet die Lebensgrundlagen der Zivilbevölkerung. Israel begeht schwerste Kriegsverbrechen. Und Israel zeigt ein Gesicht, das es nie wieder loswerden kann. Eine hässliche Fratze der Unmenschlichkeit, die antijüdische Ressentiments in aller Welt befeuert, weil der Staat Israel sich anmaßt, im Namen des Judentums zu handeln. Israel wird dabei zum gefährlichsten Ort für Juden auf der Welt. Israel als angeblich "jüdischer Staat" und Symbol für "Jüdisch-Sein" ist zur größten Gefahr für Juden seit dem nationalsozialistischen Deutschland geworden, befeuert antijüdische Ressentiments gegenüber Juden überall auf der Welt und macht sie angreifbarer denn je.
Viele Menschen, die zwar zu der historischen Schuld Deutschlands gegenüber seinen jüdischen Bürgern und den Juden Europas stehen, vergessen fast immer die
besondere Verantwortung Deutschlands auch gegenüber den Palästinensern.
Für sie haben die Verbrechen Deutschlands an den Juden Europas, hat der Holocaust ohne jedes eigene Zutun zum Verlust ihrer Heimat und zu ihrer Vertreibung geführt. Wir können deshalb unsere Verantwortung und unser Mitgefühl nicht einfach nur dem Staat Israel widmen, wie es als deutsche "Staatsraison" praktiziert wird. Unsere Verantwortung muss darüber hinausreichen und einen gerechten Frieden in Palästina einschließen. Und lassen wir uns nicht täuschen: die zionistischen Bestrebungen, in Palästina einen eigenen jüdischen Nationalstaat zu errichten, hatten ursprünglich recht wenig mit der "Schaffung einer sicheren Zuflucht“ für die verfolgten Juden Europas zu tun, sondern entsprang einem elitären, messianisch-nationalistischen Projekt, ja war geradezu „unjüdisch“.
Zwei Texte, die 2014 in Israel unter dem Eindruck des Gaza-Kriegs entstanden sind, haben für mich auch heute noch Gültigkeit in ihren Aussagen über den "Nahost-Konflikt", der uns nun seit einem Dreivierteljahrhundert beschäftigt. "Gaza und der Palästinakonflikt" und "Gaza inmitten von Parolen und Tränen" über die Schwierigkeiten, als Journalist mit diesem Konflikt und seinen Kriegen umzugehen, füge ich hier leicht aktualisiert meinen Photographien bei.

Zentrum von Khuza'a im Bezirk Khan Yunis (im Süden von Gaza) mit dem Wasserturm und der zerstörten Moschee, 2014

Im Gegensatz zu den anderen besetzten palästinensischen Gebieten, der sogenannten Westbank bzw. Westjordanland, hat Israel den Gazastreifen vor Jahren geräumt, ohne sich allerdings darum zu kümmern, wie es den Menschen dort - zum großen Teil Flüchtlinge aus dem Gebiet des heutigen Israel - gelingen könnte, Strukturen einer zivilen Verwaltung aufzubauen. Man wollte "das Problem Gaza" (trotz der erbitterten Proteste jüdischer Siedler, die dort bleiben wollten) einfach loswerden und sich auf die "Erschließung" und jüdische Besiedlung des Westjordanlands konzentrieren. Radikale Palästinenser-Organisationen wie Hamas haben die Gelegenheit er-griffen und ihr Regime errichtet, nachdem Israel einen Zaun um Gaza gezogen hatte, um es sich selbst zu überlassen. Was folgte sind bisher fünf Kriege, die den Namen des schmalen Küstenstreifen tragen.
Der erste "Gaza-Krieg" fand 2008 statt. Vier Jahre später folgte 2012 der nächste. Nur zwei Jahre danach 2014 der dritte mit den bis damals verheerendsten Zerstörungen. Dann 2021 und nun im Oktober 2023 der bisher letzte und wohl verheerendste und am längsten andauern-de. Die in Gaza herrschende Hamas verfügte über weitaus größere Feuerkraft als in der Vergangenheit, schoss tausende von Raketen nach Israel, die allein durch ihre große Zahl das israelische Raketen-abwehrsystem überfordern. Deshalb trafen diesmal mehr Geschosse Israel, richten Zerstörung an, töten Menschen. Und Hamas hat - von langer Hand geplant - einen Angriff in Israel durchgeführt, der bisher für völlig unmöglich gehalten wurde.
Mehrere Faktoren haben dazu geführt, dass der Hamas ein derart großangelegter Ausbruch aus Gaza und Angriff auf Israel gelingen konnte.
Die Absicht Israels, das von ihm besetzte palästinensische West-jordanland ganz zu annektieren und die in jüngster Zeit verstärkten Bemühungen, die jüdischen Siedlungen dort auszubauen, führten dazu, Armee-Einheiten, die für den Schutz der Grenze zu Gaza zuständig sind, ins Westjordanland zu verlegen. Israels Regierung wähnte den Gaza-Streifen sicher abgesperrt und richtete den Blick ganz auf die militärische Sicherung des Westjordanlandes. Hamas-Trupps konnten in großer Zahl weitgehend ungehindert über die Grenzsperren nach Israel eindringen und sich dort zeitweise völlig frei bewegen.
Eine bedeutende Mitschuld wird in Israel Premierminister Netanyahu gegeben, der Hamas als "Verbündete" ansah bei dem Versuch, die Palästinenser zu spalten, die gemäßigteren Kräfte zu schwächen und vor allem die weltweite Forderung nach einem Palästinenserstaat zu torpedierten. Israels Führung unter Ministerpräsident Netanyahu ging so weit, bei der Finanzierung der Hamas durch jährlich Millionen von Dollars aus Katar behilflich zu sein und ihre sichere Lieferung "frei Haus" in den Gazastreifen an Hamas zu garantieren. Die militärische Aufrüstung und zunehmende Gefahr durch die radikal-islamistische Hamas unterschätzte Israels Führung massiv.
Geiseln zu nehmen, als Schutzschilde gegen die zu erwartenden israelischen Vergeltungsschläge und als Tausch"objekte" für Tausende
von Palästinensern in israelischen Gefängnissen, war sicherlich eines
der Ziele des Angriffs der Hamas vom 7. Oktober. Vor allem aber sollte es ganz offenbar eine Demonstration der eigenen Macht sein. Zeigen, dass Israel nicht unverwundbar ist und Hamas fähig zu solchen Schlägen. Um den Schrecken auf israelischer Seite ins Unermessliche
zu steigern, sind Hamaskämpfer oder der sie begleitende Mob wie eine barbarische Soldateska vor allem auch über israelische Zivilisten hergefallen und haben sie bestialisch niedergemetzelt oder zu Tode gequält.
Auch der Zeitpunkt war bewußt gewählt, genau 50 Jahre nach dem Jom Kippur Krieg Syriens und Ägyptens gegen Israel, den man in der arabischen Welt als gelungenen Überraschungsschlag gegen Israel, ja wie einen Sieg rühmt.
Natürlich ist auch die bessere Bewaffnung der Hamas ein wichtiger Faktor. Vor allem aufgrund der Unterstützung durch den Iran, der die Hamas als Verbündeten sieht und mit Geld, vor allem aber mit Waffen ausrüstet. Auch wenn die oft zitierte Meinung, der "Iran stecke hinter" allem, was Hamas tut, m.E. eine Überbewertung der Rolle Irans bzw. Unterschätzung der Hamas als bloßem Befehlsempfänger des Mullah-Regimes ist.
Durch die von den USA forcierte Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel drohten die Palästinenser vollends ins Abseits zu geraten. Für Saudi Arabien und andere arabische Staaten wurde es immer weniger eine Bedingung für die Normalisierung der Beziehungen zu Israel, auch die Rechte der Palästinenser einzufordern. Das Schicksal der Palästinenser und ihr Existenrecht drohten keinerlei Rolle mehr zu spielen. Dies wurde durch den Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober und die grausame Rache Israels in weite Ferne gerückt.
Was folgte, hatten Israels Regierung und Streitkräfte angekündigt. Israel schlägt mit seiner gewaltigen Übermacht zurück, einem Vielfachen an Feuerkraft und moderner Waffentechnik. 2014 gleichen weite Wohngebiete Gazas nach den israelischen Vergeltungsschlägen einem Trümmerfeld. Damals hatten die wahllos auf Israel abgefeuerten Raketen der Hamas 6 Israelis getötet. In Gaza tötete Israel als Vergeltung 2125 Palästinenser.
Angesichts der besonderen Brutalität des Angriffs der Hamas 2023 und der Zahl von 1400 Toten auf israelischer Seite, ist die Straf-expedition und Vernichtungskampagne dieses Mal noch mehr jenseits jeder Verhältnismäßigkeit und totaler: Zehntausende, vor allem Kinder und Frauen werden wahllos getötet, unter den Trümmern ihrer Häuser lebendig begraben. Weit über Hunderttausend verwundet und verstümmelt. Hunderttausende durch Hunger gefoltert und die Schwächsten unter ihnen, Kinder und Kranke, im wahrsten Sinne des Wortes hingerichtet.
Gaza und der
Ich verabscheue das rassistisch-antijüdische Geschrei von Hamas, ganz zu schweigen vom antisemitischen Bodensatz in Deutschland. Aber ich ertrage auch die offizielle Phrase vom "Selbstverteidigungsrecht" Israels in diesem Fall nicht, das seinerseits Tag für Tag aus purem Eigennutz Palästinenser enteignet, von ihrem Land vertreibt, auf sie schießen lässt, in Gaza Völkermord an ihnen begeht.
Deshalb hier ein paar Bemerkungen, um mich von den Apologeten beider Seiten zu distanzieren, von denjenigen, die den Konflikt nutzen, um ihr rassistisch-antisemitisches Süppchen zu kochen und denjenigen, die die militärische Großmacht Israel trotz ihrer himmelschereienden Verbrechen gegen Völkerrecht und Menschenrechte zum unschuldigen "David", zum Opfer stilisieren.
Niemand hat das Recht, mit Raketen auf zivile Ziele zu schießen. Das Hamas-Regime in Gaza nicht und die israelische Regierung auch nicht. Das aber tun beide. Hamas mit ihren primitiveren Mitteln auf Teufel komm raus. Und die "chirurgischen Schläge" israelischer Raketen und Artillerie gegen angeblich klar ausgemachte "Hamas-Ziele" im dicht bewohnten Häusergewirr Gazas sind ein Märchen. Beides sind eklatante Verletzungen der Menschenrechte. Und hinter beidem steckt zynisches Machtkalkül.
Die Hamas-Machthaber in Gaza wissen, daß sie mit ihren Raketenangriffen viele Palästinenser in ihrer Ohnmacht und Wut gegenüber Israel hinter sich versammeln können. Und die israelische Regierung muß wissen, daß der tagtägliche Diebstahl palästinensischen Landes durch jüdische Siedler in den besetzten Gebieten, gefördert durch den Staat Israel, den Boden bereitet, der die Wut, Ohnmacht und Verzweiflung hervorbringt, die von Kräften wie Hamas für ihre Politik genutzt werden.
Palästinakonflikt
Die Friedensbemühungen in Israel/ Palästina werden seit Jahren von beiden Seiten ad absurdum geführt. Durch eine korrupte palästinensische PLO-Führung in der Westbank, die sich mit dem Status quo abgefunden hat, und - radikaler als die PLO - durch die Hamas-Führung in Gaza mit ihren Terrorstrategien gegen Israel. Vor allem aber durch eine israelische Regierung, die sich dank der Überlegenheit ihres Militärs ebenfalls mit dem Status quo abgefunden zu haben scheint und diesen durch ihr Unrechtsregime in den besetzten Gebieten Stück für Stück zu ihrem Vorteil zu verändern sucht.
Vorbei die Zeiten, in denen die Welt bzw. die USA durch Androhung von Sanktionen beide Seiten zu den Friedensverhandlungen in Oslo gezwungen hatten. In Israel hat die Mehrheit der Menschen schon seit langem ihren Glauben an einen Friedensprozess verloren und verspürte auch angesichts massiver wirtschaftlicher Probleme kaum Lust, sich weiter dafür zu engagieren.
Umso mehr Respekt verdienen jüdische Organisationen wie B'Tselem oder etwa die Handvoll Resereve-Offiziere und Soldaten der Reserve der Geheimdienst-Eliteeinheit 8200, die aufgrund ihrer Erfahrungen im Krieg die Politik Israels kritisieren und den Dienst verweigern.
Was für ein Mut, was für eine Charakterstärke, in einem von Feinden umgebenen, bedrohten Land, die Stimme für die Rechte der vermeintlichen Feinde zu erheben! Wenn wir von Israel als der einzigen Demokratie im Nahen Osten sprechen, dann vor allem und inzwischen nur noch, weil es dort kritische, der Humanität verpflichtete Menschen gibt, die so Großartiges leisten - trotz aller Versuche ihrer Regierung, sie daran zu hindern.
Momente einer Normalität
Ein paar Bilder auch von früheren Besuchen, aus den Jahren 2012 und 2013, um nicht nur die blanke Zerstörung zu zeigen, sondern ein paar Momente aus dem "normalen" Leben in Gaza-Stadt und Rafah, an der Grenze zu Ägypten, wo jahrelang durch unterirdische Tunnel Waren aller Art, Lebensmittel, Baumaterial, aber auch Waffen ins abgesperrte Gaza geschmuggelt worden sind.
Ein paar Gedanken über die Schwierigkeiten, als Journalist mit diesem Krieg umzugehen.
Gaza: inmitten von Parolen und Tränen
Der Krieg in Gaza ist auch ein Kampf um Worte und die Deutungshoheit über sie. Da ist die Frage: ist Hamas nichts anderes als eine „Terrororganisation“, wie Israels Regierung sagt? Der Nahost-Konflikt stellt uns Journalis-ten vor ein Dilemma.
Die palästinensische Seite macht es uns relativ einfach mit ihrer bizarr wirkenden grossmäuligen Rhetorik. Sie spricht in dem aussichtslosen Kampf von „Sieg“ und ist doch noch nicht einmal ein David gegenüber dem gewaltigen militärischen Goliath Israel. Die radikalen Palästinenser fügen den Israelis zwar in der Tat höhere Verluste zu als in allen früheren Waffengängen. Aber Gaza wird nicht zum „Friedhof für israelische Soldaten“, wie Hamas großsprecherisch verkündet. Es ist vielmehr zu einem Friedhof für hundertmal so viele Palästinenser geworden.
Geradezu verstörend geschmacklos wirken auf uns Europäer die martialischen Siegesparaden vermummter Hamas- und Islamic Jihad-Kämpfer mit ihrem Jubel über jeden getöteten Israeli. Da will man am liebsten gar nicht mehr hinschauen, geschweige denn sich die Mühe machen, nach dem Sinn solcher Veranstaltungen zu fragen und danach, was in diesen Leuten vorgeht. Es sind "eben Terroristen".
Die israelische Seite hatte es da stets leichter, unser Verständnis zu finden. Nicht nur, weil Israel, unser "Heiliges Land", seine Menschen mit ihrer Religion und Kultur uns näher sind. Seine Public Relations ist moderner, klüger, einfach so, wie wir es gewohnt sind. Israels Premierminister Benjamin Netanyahu - in den USA aufgewachsen und Absolvent der bedeutendsten Elite-hochschulen Amerikas - ist ganz der Typ westlicher Polit-Profi. Er und sein Pressesprecher verstehen es blind, keinen Satz von sich zu geben, in dem nicht mindestens einmal Begriffe vorkommen wie: „Israels Recht auf Selbstverteidigung“, „Hamas-Terroristen“, „Sicherheit für Israel“ oder „die Hamas benutzt menschliche Schutz-schilde“. Israels Konflikt mit den Palästinensern um deren Land schweigen sie tot. Jahrelang stilisierte man aus taktischen Gründen den Iran zum angeblichen Haupt-problem für die Sicherheit Israels.
Als um Wahrheit und Fairness bemühter Journalist bereiten einem die Parolen und einfachen Schuld-zuweisungen beider Seiten, Israels und der Paläs-tinenser Bauchschmerzen.
Unser Dilemma ist: wir stehen, wenn es um sein Existenz-recht geht, hinter Israel, teilen aber nicht unbedingt seine Politik und Methoden gegenüber seinen palästi- nensischen „Nachbarn“. Daher haben wir eine Formel
gefunden, beiden Seiten irgendwie gerecht zu werden. Wir berichten bei Israel übedessen gute Gründe, bei den Palästinensern über ihre Not und ihr Elend. Als Reporter, als Journalisten bleiben wir damit ausgewogen: der einen Seite die Argumente, der anderen unser Mitleid.
Ein klares Bild der Lage entsteht dabei nicht. Keines, das beiden Seiten, Israelis und Palästinensern, gerecht würde, beide mit ihren berechtigten Ansprüchen ernst nimmt als Konfliktparteien, die eine dauerhafte Lösung suchen. Dem stehen schon die gängigen Denk- und Rechtfertigungs-muster samt der dazugehörigen propagandistischen Wort-hülsen im Weg. Der Verantwortung, diese immer wieder kritisch zu hinterfragen, müssen wir uns als Journalisten stellen.
Nehmen wir das Beispiel der israelischen Sprachregelung von den „Hamas-Terroristen“, der sich Politiker und Medien in aller Welt bedenkenlos anschließen. Nun ist Hamas in der Tat, in vielem was sie tut, eine terroristische Ver-einigung. Aber sie darauf zu reduzieren, heisst, sie als möglichen Gesprächspartner auszuschließen bzw. mit ihr aus der Position des Polizisten wie mit einem Kriminellen zu sprechen. Also de facto, nicht zu verhandeln, sondern lediglich Bedingungen und Bestrafung "anzubieten".
Hamas, das ist aber nicht nur der blanke Terrorismus. Hamas ist auch eine politisch-islamistische Bewegung, die 2006 demokratische Wahlen in Palästina gewann und unter den ohnmächtigen Palästinensern mit dem bewaffneten Widerstand gegen Israel sogar immer wieder verloren gegangenes Ansehen zurückzugewinnen vermochte. Das macht sie nicht besser, aber doch zu mehr als nur einer dahergelaufenen „Bande von Terroristen“.
Beispiele aus der jüngeren Geschichte zeigen, wie kurz-sichtig solch eine Banalisierung ist. Auch die irische „IRA“ war für die britische Regierung und die USA eine Terror-organisation. Aber trotzdem auch ein Gesprächspartner, und in zähen Verhandlungen gelang es Amerikanern und Briten, einen bisher dauerhaften Frieden mit der IRA zu schliessen.
Die heute als gemäßigt geltende PLO im palästinensischen Westjordanland, die mit Israel in Sicherheitsfragen zusam-menarbeitet, war früher ein terroristisches Schreckge-spenst. Und auch der ehemalige israelische Ministerpräsi-dent Menachem Begin war ein Terrorist, der Sprengstoff-anschläge gegen britische Soldaten und arabische Zivilis-ten verübte und an der Entführung und Ermordung briti-scher Soldaten beteiligt war. Ein makabres Detail aus der schon langen Geschichte dieses Konflikts, bedenkt man die Angst der Israelis heute, radikale Palästinenser könnten einen ihrer Soldaten entführen.
Noch ein Begriff muss in diesem Zusammenhang genauer betrachtet werden: die „menschlichen Schutzschilde“, als welche Hamas-Terroristen die Bevölkerung Gazas miss-brauchen. Auch dieser Vorwurf ist nicht völlig grundlos. Aber seine gebetsmühlenartige Wiederholung durch die israelische Regierung kann nicht über einen wichtigen Aspekt hinwegtäuschen: Es gehören immer zwei dazu, derjenige, der sich hinter Zivilisten versteckt, und der, der dann eben auf beide, Hamas-Kämpfer und Zivilisten, schießt.
Und das tut Israel stets ohne jede Rücksicht auf die Opfer unter unschuldigen Menschen. Der grosse Blutzoll der palästinensischen Zivilbevölkerung und die bei weitem nicht so "chirurgischen" Angriffe des israelischen Militärs waren schon immer ein trauriger Beleg dafür.
Die Tatsache, dass Hamas ihre Tunnel nicht von den frei einsehbaren offenen Flächen Gazas aus, sozusagen unter den Augen der israelischen Überwachungs- und Kampf-drohnen gräbt, sondern im Schutz von Gebäuden, auch neben Schulen und Krankenhäusern, verwundert kaum. Auch hier fragt sich allerdings, ob sich daraus das Recht ableiten lässt, zehntausende von Bewohnern Gazas aufzu-fordern, ihre Häuser, ja ganze Stadtviertel zu verlassen, um diese dann zu zerstören. Zumal in Israel Tafeln an Schulen und Synagogen stolz daran erinnern, dass jüdische Terro-risten sich mit ihren Waffen in ihrem "Befreingskampf" an solch zivilen Orten versteckten.
Es ist nicht leicht, mit "Terroristen" zu verhandeln, wenn man gleichzeitig das Ziel ihrer Raketen und Anschläge ist. In Israel sieht man in den Angriffen radikaler Palästinenser nur den Beweis ihres unversöhnlichen abgrundtiefen Hasses auf „die Juden“. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Die verbale und gewalttätige Radikalität der Hamas lässt sich kaum denken ohne das Gefühl der tiefen Hilflosigkeit und furchtbaren, ohnmächtigen Wut über das Unrecht und die ständigen Demütigungen, die Palästinen-ser von israelischer Seite erfahren. Darin "schwimmt" Hamas.
Israelis wie Palästinenser haben letztlich keine andere Wahl, sie müssen lernen, über diesen jahrzehntelangen blutigen Schatten zu springen und sich gegenseitig zu akzeptieren: die Existenz des Staates Israel ebenso, wie das Existenzrecht des palästinensischen Volkes in einem eigenen, unabhängigen Staat. Ohne die prinzipielle An-erkennung der Rechte des jeweils anderen wird nie Frieden herrschen, in Israel ebensowenig wie um Israel herum. Die Maximalforderungen - die "Zerstörung Israels" auf der einen, ebenso wie der Anspruch: "Palästina hat es nie gegeben und wird es auch nie geben" auf der anderen Seite -, sie sind beide eine lebensgefährliche Dummheit.
Gaza 2024
im Blick von Pressephotographen:
Reuters-Photograph Abdul Saboor aus Paris

Photo: Abdul Saboor/Reuters
Es gibt so viel Grausamkeit und Leid, dessen Bilder notgedrungen die Titelseiten der Zeitungen und Magazine füllen. Immer wieder wird - zu Recht - ein besonders ausdruckstarkes davon "Pressefoto des Jahres". Ich weiß nicht, was alles noch in diesem Jahr passieren wird. Aber wenn ich ausnahmsweise einmal ein positives Bild wählen dürfte, dann wäre es das Photo dieser jungen Demonstrantin, die im strömenden Regen von Paris ihre Stimme und ihren Arm mit der Fahne Palästinas erhebt, für die Rechte der Menschen in Gaza/Palästina, in Würde zu leben und nicht massakriert zu werden.
Dies ist - bis auf weiteres - mein "Bild des Jahres".
Reuters-Photograph Mohammed Salem aus Gaza

Photo: Mohammed Salem/Reuters
Inas Abu Maamar hält die Leiche ihrer fünfjährigen Nichte in den Armen, getötet vom israelischen Militär bei einem Angriff auf ein Wohnviertel in Khan Yunis im Gazastreifen im Oktober 2023.
Wir kennen ihren Namen nur, weil dieses Bild des palästinensischen Photographen Mohammed Salem der Agentur Reuters als Pressephoto des Jahres prämiert wurde. Ein Bild, dessen minimalistische Konzentration auf zwei ineinander verschlungene verhüllte Gestalten den Krieg einfühlsamer darstellt als die vielen Trümmerlandschaften, in die Israel Gaza verwandelt.
Es steht in seiner ruhigen anonymen Trauer scheinbar im Gegensatz zum Tod der unglaublichen Zahl zigtausender Frauen, Männer und Kinder, die innerhalb nur weniger Wochen getötet wurden. Wir sehen sie in den Nachrichtensendungen in Form von blauen Plastiksäcken, die in Massengräber gelegt werden, weil keine Zeit und kein Ort bleibt für ein respektvolles Begräbnis so vieler Toter.
Das Photo Mohammed Salems zeigt uns die tausendfache Trauer in Gaza in der Art eines Bildhauers: als abstrakte Gestalt, verhüllt und anonym - wie die unzähligen, namenlosen Opfer in ihren blauen Palstiksäcken in der aufgewühlten Erde Gazas.

Ein weiterer palästinensischer Photograph:
Time Magazine zählte Motaz Azaiza zu seinen
"The 100 Most Influential People of 2024"
For 108 days, Motaz Azaiza acted as the world’s eyes and ears in his native Gaza. Armed with a camera and a flak jacket marked “PRESS,” the 25-year-old Palestinian photographer spent nearly four months documenting life under Israeli bombardment: families displaced from homes, women mourning loved ones, a man trapped beneath the rubble. His images offered a glimpse into Gaza that few in the international press — which has been all but barred from accessing the Strip — could rival. He did so at great risk: At least 95 journalists have been killed in Gaza since Oct. 7, in what has been the deadliest period for the press since the Committee to Protect Journalists began tracking fatalities in 1992. Dozens more have been injured or arrested. Since evacuating Gaza in January, Azaiza’s role has shifted to raising awareness of the crisis — and to calling for international intervention. “What is happening in Gaza is not content for you,” he said. “We are not telling you what is happening ... for your likes or views or shares. No, we are waiting for you to act. We need to stop this war.”